Probleme ignorieren
Von der Kunst Probleme zu ignorieren
Die lieben Schweden sind ausserordentlich begabt wenn es darum geht, sich problembehafteter Herausforderungen anzunehmen.
Gilt es, in einem Prozess des scheinbaren maximalen Diskurses eine »Lösung« zu finden, bei deren Findung alle Positionen ausserhalb der gedanklichen extremen »Mitte« (lies: der Ansicht von der anzunehmen ist, dass sie die Gewünschte ist) tunlichst in keinster Art und Weise zu äussern sind.
Ein Beispiel zum Verständnis:
eine »wichtige« Besprechung in einem Unternehmen ist anberaumt.
Erörtert werden sollen neue Arbeitsabläufe. Das tatsächliche Problem im vorliegenden Beispielsfall liegt in Wirklichkeit darin, dass die IT- Systeme des besagten Unternehmens grundlegende Fehler haben, mit denen alle Angestellten und sogar Kunden täglich zu kämpfen haben, und welche die Arbeitseffektivität des Unternehmens mindestens um die Hälfte reduzieren.
Über neue Routinen und Abläufe zu reden ist also von vornherein völlig sinnlos, weil sich das eigentliche Problem an ganz anderer Stelle befindet.
Wie wird eine solche Besprechung (auf schwedisch »möte« genannt) verlaufen?
Im anglo-amerikanischen Sprachraum gibt es dafür den schönen Begriff des »elephant in the room«.
Wikipedia belehrt uns:
»Der Elefant im Raum ist eine aus dem angelsächsischen Sprachraum stammende Metapher (elephant in the room), die seit der Jahrtausendwende auch im deutschen Sprachraum an Popularität gewonnen hat.
Der Anglizismus bezeichnet ein offensichtliches Problem, das zwar im Raum steht, aber dennoch von den Anwesenden nicht angesprochen wird.
Die Gründe für das Schweigen können vielfältiger Natur sein, beispielsweise die Angst vor persönlichen Nachteilen und Repressionen oder die Furcht, jemanden – womöglich Anwesende – zu verletzen, ein Tabu zu brechen oder die ungeschriebenen Regeln politischer Korrektheit zu missachten.«
Eine sehr gut gelungene Beschreibung des Begriffes (und des Zustandes).
Eine Punktlandung für die schwedische Mentalität und dem schwedischen Umgang mit Problemen und deren möglichen Lösungen sozusagen. Wir erinnern uns an das noch immer in der schwedischen Gesellschaft allgegenwärtige ∞ »Jantelagen«.
In diesem Beitrag ist der tiefere Sinn des Jantelagen beschrieben, sowie dessen Auswirkungen und Widersprüche.
Zurück zu unserer Besprechung in Schweden.
Machen wir doch eine kleine Kreativitätsübung und stellen wir uns die Situation ganz praktisch vor:
Ein mittelgrosses Besprechungszimmer mit Tischen und Stühlen in üblicher Anordnung. Zehn Teilnehmer strömen nach und nach in den Raum. Alle sind pünktlich (denn es gibt in Schweden nur wenig Schlimmeres, als zu spät zu einem Meeting zu kommen - man könnte ja negativ auffallen).
Es wird also langsam enger im Raum, und das liegt nicht zuletzt daran, dass in der Mitte des Raumes ein afrikanischer Elefant (Loxodonta africana) in seiner vollen typischen Größe (ca. 3,70 hoch und 6,6 Tonnen schwer) steht.
Das Beste ist, der Elefant ist rot.
Somit für alle nicht zu übersehen, nicht einmal mit Sonnenbrille.
Im Gedenken an Seth Godins legendäre »purple cow« müsste man jetzt eigentlich erwarten, dass sich alle Menschen im Raum - laut »wow« und »unglaublich« raunend - um den Elefanten gruppieren, um diesen Exoten zu bewundern.
Doch nein, dem ist nicht so.
Geistern gleich schleichen die Menschen im Raum um den nicht zu übersehenden Giganten - der es sich nun gemütlich macht und sich hinlegt, wodurch er noch mehr Raum einnimmt. Die Anwesenden machen komische körperliche Verrenkungen, um ihn nicht einmal auch nur zu berühren.
Alle sprechen sogar mit sehr gedämpfter Stimme um das gefährliche Monster - das eigentlich nur ein friedliebender Vegetarier ist - nicht aus seinem beginnenden Dämmerschlaf zu erwecken.
Allerlei »Beschwichtigungsgesten« unter der Belegschaft ihren Kollegen gegenüber sind zu beobachten.
Genug des fiktiven kreativen Bildes;
zurück zur ernüchternden schwedischen Alltagsrealität.
In unserer Besprechung werden zunächst einmal - zur Stärkung des Zusammenhaltes - allerlei eigentlich völlig sinnlose verbale Belanglosigkeiten ausgetauscht.
Hervorragend bieten sich dafür z. B. schon längst vor Wochen schon ausführlich besprochene und bereits beschlossene Änderungen in unbedeutenden Detailfragen an.
Gemischt mit subtilen Unmutsbekundungen über bereits "gelegte Eier" und stets in Frageform gekleidet, bietet sich hier ein gefundenes Fressen für alle Arten und Weisen der Arbeitszeitvernichtung.
Und vor allem:
Der scheinbar schlummernde Elefant in der Mitte des Raumes wird hierdurch ganz sicher nicht aufgeweckt.
Sich dem Thema in aller gebotenen Behutsamkeit annähernd wird sodann ein vermeintlich workshopartiges Element in die Besprechung eingebracht;
eine kleine Gruppenarbeit eben.
Eingeteilt in zwei Gruppen zu je drei und einer solchen mit vier Teilnehmern soll nun mit der Zeitvorgabe von 20 Minuten das Thema:
»Welche Möglichkeiten kann es in unserer Organisation für eine weitere Verbesserung der Arbeitseffektivität geben« beackert werden.
Spätestens jetzt bekommen Gruppenteilnehmer mitteleuropäischer Abstammung mit einem IQ über der Zimmertemperatur akute Atemnot.
Eine Herausforderung, erleben wir doch soeben eine gedankliche Kontradiktion, denn was soll da noch »weiter« verbessert werden?
Wo nichts ist kann nichts »weiter« verbessert werden.
- Wehe, du wagst es,
Dich aus der sozialen Gruppe hervor zu tun! -
Halt! Rein denklogisch wäre jede Überschreitung der Nullinie ins Positive hinein schon irgendwie eine Verbesserung. Gut.
Weiteratmen und zurück zur Gruppenarbeit.
Es werden nun allerlei Ideen auf Flipchartpapier (im Grunde alles andere als umweltfreundlich, aber es gibt noch Gebiete, in denen die »Heilige Greta Thunberg« sich erfreulicherweise noch nicht durchgesetzt zu haben scheint) gepinselt nachdem es ungefähr 10 der anberaumten 20 Minuten gedauert hat, im aktiven Diskurs einen Gruppenteilnehmer auszuerkoren, der die »Ergebnisse« aufs Papier bringen und diese nachher in der »Präsentationsrunde« vor der gesamten Gruppe präsentieren wird.
Eigenartig übrigens, dass trotz des lähmend langsamen Prozesses immer dieselben Personen zu Gruppensprechern gewählt werden.
Das sei aber nur am Rande angemerkt.
Oh - und natürlich denken wir unbewusst immer an den kolossalen Vierfüßer in unserer Mitte. Genau genommen denken wir nicht nur ab und zu an ihn, sondern er ist gleichsam wie eine Wäscheklammer, die unser Gehirn umschließt, unsere Gedanken einzwingt und uns so davon abhält erst gar nicht an wirklich kreative und innovative Ideen zu denken (geschweige denn eine solche Idee auch nur verbal anzudeuten).
Und so werden also im Maschinengewehrtempo altbekannte und hinreichend, ausgelatschte »ungefährliche« Ideen aufs Papier geschrieben, die von allen Besprechungsteilnehmen erwartungsgemäß als wohlwollend und nicht störend akzeptiert werden können.
Vor allem solche, die den riesigen Vierfüßer in der Mitte des Raumes auf keine auch nur denkbarste Art und Weise stören könnten.
So werden nun nach 20 Minuten die Ergebnisse eingesammelt und von den unter grossem Zeitaufwand ausersehenen Gruppensprechern präsentiert.
Der anwesende Chef lobt - wie stets in solchen Fällen - das ausgezeichnete Engagement aller Gruppenteilnehmer, ja, er badet geradezu in Lobeshymnen (»dass er stolz auf seine wertvollen Mitarbeiter sei, blablabla«).
Dann wird die eindrückliche Show erst einmal für eine »Fikapause« (dazu an anderer Stelle mehr - in aller Kürze: eine Art bezahlte Kaffee- und Schwätzpause, deren eigentliche Dauer von 15 Minuten in der betrieblichen Praxis im Regelfall mindestens um das Doppelte überschritten wird) unterbrochen.
Frisch im Kaffee (selbstverständlich auf Kosten des Arbeitgebers) gebadet geht es sodann - deutlich schleppender, um den derzeit friedlich in der Mitte des Raumes schlummernden Elefanten nur nicht etwa aufzuwecken - zurück in unsere Besprechung.
Dort wird vom Chef mit leiser, kaum vernehmbaren Stimme verkündet, dass all die vielen wertvollen Vorschläge nun gesammelt und einer eigens für das anstehende Problem eingesetzten standortübergreifenden Arbeitsgruppe zur Sortierung und Auswertung zugeleitet würden.
Immerhin sei in den überaus wichtigen zur Diskussion stehenden Fragen nichts entschieden und man würde sich von Seiten der Unternehmensleitung zu gegebener Zeit mit einem Feedback zu den eingebrachten Vorschlägen und den beabsichtigten Massnahmen äussern.
Die Besprechung ist damit beendet.
Die - zumindest noch rein physisch - anwesenden Besprechungsteilnehmer versetzen sich plötzlich in einen Zustand hektischer Betriebsamkeit und steuern - mit der leeren Kaffeetasse in der Hand - zielgerichtet in Richtung Ausgang.
Genau genommen ist die Tür des Besprechungszimmers nur eine notwendige Zwischenstation auf dem Weg zur vollautomatischen Kaffeemaschine. Und es ist Eile angesagt, denn wer will schon vor der Kaffeemaschine in der Warteschlange anstehen?
Der Aufbruch ist gar so hektisch, dass sogar das Risiko bestehen könnte den noch immer - einem Buddha gleichend in der Mitte des Raumes thronenden - Elefanten zu touchieren.
Ein solcher Fauxpas würde freilich auf der Stufe mit einer Todsünde stehen, weswegen manche aus dem Raum Eilenden ganz unvermittelt scheinbar ellipsoide Laufbahnen einschlagen um zügig zur Tür zu gleiten.
So sieht sie aus, die schwedische Art Probleme zu lösen.
Kurz zusammen gefasst:
1. Der wahre Kern (bzw. die Ursache) eines Problemes darf unter keinen Umständen angesprochen werden.
2. Es ist stets der Anschein aktiver Teilnahme zu erwecken.
In Japan wird diese Kunst als »Inemuri« bezeichnet. Auf Schweden übertragen bedeutet das eine Art permanenten Dämmerzustandes auf Arbeit, der aber jederzeit unterbrochen wird, wenn es als Beispiel plötzlich Zeit für eine Fikapause ist.
3. Es ist stets überschwängliches soziales Feedback an andere in der Belegschaft zu geben, um den Zusammenhalt in der Gruppe sicher zu stellen.
Merke:
Aufgabenorientierung ist böse,
Fokussierung auf das Gesamtkollektiv und die eigene persönliche Gruppenposition in demselben ist gut und erstrebenswert.
4. Die ausufernden und völlig sinnlosen Diskussionen und Gruppenarbeiten verfolgen nur den einen Zweck, jedem Gruppenmitglied das Gefühl zu geben, an der Problemlösung teilhaben zu können.
Freilich unter den bereits oben genannten Bedingung, dass man sich aus dem eigentlichen Problem doch bitte unbedingt heraus halten möchte.
5. Das Grundproblem, das es scheinbar zu lösen gilt, ist überhaupt nicht wichtig.
Eine gute Zeit zu haben hat Vorrang, denn die Entscheidungen werden ohnehin an anderer Stelle getroffen und sind es meist schon, bevor die zwanghaften Diskussionen Überhaupt beginnen.
Ein Bonus noch:
sollte einmal der (unerwünschte) Fall eintreten, dass ein einzelnes Gruppenmitglied zu kritisieren wäre, so wird das nicht geschehen.
Statt dessen wird die entsprechende Problemlage in möglichst grosser Runde und ganz allgemein, als ob es sich um ein generelles Problem handeln würde, abgehandelt.
Natürlich weiss jeder, um wen es im Kollegium geht und worin das Problem besteht. Aber es wäre eine Todsünde das auch nur zu denken (geschweige denn dem Ausdruck zu verleihen).
So läuft das in Schweden und nicht anders!
Manches Mal denke ich mir, dass es eigentlich einem Wunder gleicht, weil es hier überhaupt fliessendes Wasser und Strom gibt.
Die Schweden sind eben die »Italiener des Nordens«.
Euer