Rückblick Wei(h)n - achten


Rückblick Wei(h)n - achten

Ich mag die vorweihnachtliche Zeit wirklich sehr. Nicht, weil mir an der Form und Feier dieses "Hochfestes", dessen zeitliche Platzierung im Jahreskreis doch eher heidnischen, als christlichem Ursprung entspringt gelegen wäre, sondern wegen eines anderen vorweihnachtlichen Brauches, den der Jahresrückblicksbriefe (oder sollten sie vielleicht eher Jahresendbriefe heissen?).

Nicht nur der mediale Overkill beginnt bereits im November mit der Ausstrahlung von Sendungen und Formaten, die sich dem Rückblick auf das sich dem Ende neigenden Jahres widmen, sondern auch mehr und mehr Privathaushalte und Privatpersonen haben diese junge Tradition übernommen.

Gerade wenn man, wegen der räumlichen Trennung oder Entfernung, keinen laufenden Einblick in das Leben von Freunden und Bekannten mehr hat, sind die - typischerweise kurz vor Weihnachten - eintrudelnden Jahresrückblicksbriefe immer wieder eine Quelle der Information und geben Anlass zum vertieften Nachdenken.

Kürzlich sind wieder eine Reihe solcher Briefe bei uns eingegangen, die uns sehr nachdenklich gemacht haben. Es ist natürlich gut zu wissen, welche Kinder welcher Bekannten ein neues Pferd bekommen, oder erfolgreich die Führerscheinprüfung absolviert haben. Auch ist es interessant, welche Stufen der Karriereleiter im zurückliegenden Jahr erklommen worden sind, wenngleich uns das eher an einen "Jahresendtrophäenrückblick" erinnert. Aber die Bewertung individueller Errungenschaften ist schliesslich äusserst individuell und subjektiv, daher möge das nicht als Missfallen gedeutet oder verstanden werden.

Nein, etwas ganz anderes hat zur angesprochenen tiefen Nachdenklichkeit geführt, nämlich das, was in keinem der hier eingegangenen Briefe angesprochen oder thematisiert worden ist.

Wir erinnern uns. Völlig gleich, ob man im Jahre 2021 in einem der grösseren "zivilisierten" Länder ("Erste Welt"), oder auf einer kleinen Bananeninsel irgendwo in den Weiten eines der Weltmeere gelebt hat, so gab es eine allgegenwärtige und allumfassende Thematik, die beinahe alle Bereiche des Lebens durchzogen, und sich dort ausgewirkt hat: Corona.

Im angloamerikanischen Sprachraum gibt es den geläufigen und weit verbreiteten Ausdruck "elefant in the room" (zu Deutsch: "Der Elefant im Raum", auch: "Elefant im Zimmer"). Die Metapher stammt übrigens ursprünglich aus dem Russischen Sprachraum und bezeichnet ein offensichtliches Problem, das zwar im Raum steht, aber dennoch von den Anwesenden nicht angesprochen wird, sei es aus Pietät, Furcht vor Tabubruch oder politischer Korrektheit.

Und genau dieser "Elefant im Raum" war es, der uns in all den jubilierenden Schilderungen der vergangenen Jahres beim genaueren Hinsehen und Nachdenken so bitter aufgestossen ist. Denn immerhin haben wir im Jahre 2021, zumindest in den Ländern der ersten Welt (und ausschliesslich aus solchen Ländern hatten uns Jahresrückblicksbriefe erreicht), einen bisher ungekannten und dramatischen Abbau bürgerlicher Rechte und einen Abbau von Grundfreiheiten, ja in manchen Ländern bis hin zur faktischen Abschaffung der Demokratie erlebt.

Es ist nur sehr schwer vorstellbar, dass all die Absender der Jahresrückblicksbriefe von diesen Ereignissen und Massnahmen gänzlich verschont geblieben waren. Warum also fand sich nicht eine einzige Silbe und kein Hinweis in den Jahresrückblicksbriefen?
Dafür mag es verschiedene Erklärungen geben. Vielleicht haben sich die Absender einfach bewusst mit der durchlebten Lage abgefunden. Was dafür spräche ist, dass es sich durchweg um eigentlich gut gebildete Menschen handelte. Vielleicht haben sie sich ja unter Abwägung aller Umstände und Aspekte dafür entschieden, die Einschränkungen sang- und klanglos als für sie selbst belanglos zu betrachten. Frei nach dem Motto, dass man erst dann bemerkt, was eine Sache (hier: ein demokratisches Rechtssystem) wert ist, wenn man sie irgendwann gar nicht mehr hat.

Wahrscheinlicher ist aber indes, dass sie sich unbewusst, also unreflektiert, mit der Lage abgefunden haben.

Noch wahrscheinlicher ist es freilich, dass sie sich in einem System, wie es im Jahre 2021 entstanden ist, schlicht wohlfühlen und es - zumindest unbewusst - sogar bejahen. Diese Möglichkeit ist umso wahrscheinlicher, als es sich - nach unserer Kenntnis - ausschliesslich um geimpfte Personen handelt.

Und genau an diesem Punkt der Überlegungen kamen uns die 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in Erinnerung. Das gesellschaftliche Klima war in grossen Teilen der damaligen Gesellschaft scheinbar gut. Bälle, Empfänge und gesellschaftliche Ereignisse waren an der Tagesordnung, und auch in den unteren Schichten der Gesellschaft schien die Welt, trotz aller wirtschaftlichen Probleme, in akzeptabler Ordnung zu sein. Denn es gab ja auf kollektiver Ebene einen gesellschaftlichen Feind, und ein gemeinsames Feindbild eint bekanntlich ein Kollektiv. Das einzige Erfordernis war es damals, das Gehirn (und nicht zu vergessen: insbesondere das Gewissen) "an der Garderobe abzugeben" und dem System bedingungslosen Gehorsam zu erbringen. Und es geschah, was geschehen musste: der Tabubruch geschah und der Rest ist Geschichte.

Leider scheinen wir aus der Geschichte keine systematischen Lehren gezogen zu haben. Wir haben in der Schule und durch die Medien viel über Namen, Zeichen und Symbole gelernt (die wir selbstverständlich und mit aller Kraft zu verabscheuen und zu bekämpfen haben). Aber über die Systematik einer entstehenden bestialischen Gesellschaft haben wir nichts gelernt, und deswegen sind die meisten Menschen an diesem Punkt unreflektiert "systemblind".

Ganz frei nach Henry Fords berühmten Ausspruch (den er freilich so nie wörtlich gesagt zu haben scheint): History is bunk. Er war offenbar der Meinung, dass die Lehren der Geschichte durch die Innovationen der Gegenwart aufgewogen werden. Übertragen auf das vergangene Jahr und die zu erwartende Zukunft entfaltet das ein besorgniserregendes Bild.

Zurück zu den Jahresrückblicksbriefen

Aus ihnen spricht das Bild einer heilen Welt. Alles scheint seine Ordnung zu haben. Es gibt auch ein Feindbild. Nur aus der Geschichte scheinen sie nichts gelernt zu haben.

2th_smiley-photographer-ani_zpsca0544ac